C. Defrance u.a. (Hrsg.): Wege der Verständigung

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Titel
Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen


Herausgeber
Defrance, Corine; Kissener, Michael; Nordblom, Pia
Erschienen
Tübingen 2010: Narr Francke Attempto GmbH & Co. KG
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Die grosse Frage, wie es nach 1945 zur deutsch-französischen Verständigung gekommen ist, wurde bisher vor allem auf der Ebene der staatlichen Akteure und der herausragenden privaten Vermittlungspersönlichkeiten wie Alfred Grosser oder Carlo Schmid abgeklärt. Entsprechend dem zu Recht stärker gewordenen Interesse an Basisvorgängen, möchte man heute jedoch vermehrt wissen, wie diese Annäherung auf der unteren Ebene vonstatten ging. Diese Bewegungen, die es etwa mit der Parole «Locarno von unten» tatsächlich gab, sind an sich ein Nachfragen wert. Hinzu kommt aber die Frage, wie sie sich zur gouvernementalen Ebene verhalten: Gehen die zivilgesellschaftlichen Kräfte im Gesamtprozess voran und ermuntern, ja drängen sie die Staatsakteure, entsprechend nachzuziehen? Oder erweitern und vertiefen sie erst im Nachvollzug, was auf der staatlichen Ebene vorgespurt worden ist? Wichtig sind freilich – als dritte Grösse – die im «Westlager» herrschenden politischen Rahmenbedingungen, welche die Akteure beider Ebenen stark motivierten.

Der hier anzuzeigende Aufsatzband leistet in diesem Bereich in mehrfacher Hinsicht einen innovativen Beitrag. Er macht nicht nur die Bedeutung der Basisentwicklungen sichtbar, er zeigt auch mit seinen Mikrostudien zu den Jahren vor 1963, dass der Elysée-Vertrag nicht die «Stunde Null» der neuen deutsch-französischen Freundschaft gewesen ist. Und er zeigt auch, dass es neben den Beziehungen zur Bundesrepublik auch Beziehungen gab, die mit dem «anderen Deutschland » unterhalten wurden.

Zur Basisentwicklung: Unerwartet tauchen hier die deutschen Kriegsgefangenen auf, die 1947 freiwillig in Frankreich blieben und 1947 sogar französische Staatsbürger werden konnten (Fabien Théofilakis). Weniger unerwartet ist die sogar noch vor der Zäsur von 1945 einsetzende Versöhnungsarbeit im katholisch-kirchlichen Milieu (Michael Kissner). Seit 1947 spielten die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren stark gewordenen überparteilichen und überkonfessionellen Deutsch-Französischen Gesellschaften insbesondere mit ihren Frankreichreisen eine wichtige Rolle (Beate Gödde und Margarethe Mehdorn). Ihnen voran gingen die kulturpolitischen Aktivitäten der französischen Besatzungsbehörde im Westdeutschland der Jahre 1945–1947. Die ersten grossen Jugendbewegungen fanden (erst) im Sommer 1953 statt (S. 191ff.). Die Städtepartnerschaften (jumelages), denen gleich mehrere Fallstudien gewidmet sind, kommen erst später auf (Barbara Dümmer, Ulrich Pfeil, Florence Pacchiano, Jürgen Dierkes, Hélène Simoneau).

In dem auf die räumlichen Bezüge ausgerichteten Teil findet sich eine Studie zur regionalen Annäherung zwischen Rheinland-Pfalz und Burgund (Christian Sebeke). Vor allem an theoretischen Fragen interessiert ist der Beitrag, der sich mit der Vielschichtigkeit des Gedenkorts Verdun befasst und den Wandel vom «Ort des nationalen Widerstands» über den «Ort des Friedens» zum «Ort der deutschfranzösischen Annäherung» und zum «Ort der europäischen Einigung» knapp und erstaunlicherweise ohne Berücksichtigung des wichtigen Auftritts von Kohl und Mitterrand von 1984 nachzeichnet (Sandra Petermann). Eine weitere Studie geht an Hand literarischer Aktivitäten im elsässisch-badischen Raum der spannenden Frage nach, ob und unter welchen Umständen Grenznähe eher abgrenzende oder eher grenzüberwindende Dynamiken förderte (Pia Nordblom). Die Verfasserin stellt für die unmittelbare Nachkriegsphase fest, dass bei Vorliegen von positiven Kristallisationszentren in Form von Personen oder Ideen und gemeinsamer Regionalkultur eine (Wieder-)Annäherung gelang, bei deren Fehlen dagegen Grenznähe eine zusätzliche Barriere bedeutete.

Da das bisherige Interesse vor allem den französisch-westdeutschen Verhältnisse gegolten hat, verdienen zwei Beiträge zu den französisch-ostdeutschen Beziehungen besondere Beachtung. Der eine befasst sich mit den aus dem fran zösischen Exil in die DDR zurückkehrenden deutschen Kommunisten. Hier zeigt sich, dass es nie um Begegnung mit «anderer Denkweise» und um Annäherung zwischen Völkern ging, sondern um Engagement im Dienste der «Arbeiterklasse» (Ulrich Pfeil). Der andere setzt sich mit dem Verein «Echanges Franco-Allemands» (EFA) auseinander und geht für die Jahre 1958–2008 der Fragen nach, inwiefern diese Gruppe zivilgesellschaftlicher oder politischer Natur gewesen sei, was sich nach dem Verständnis der Verfasserin eigentlich gegenseitig ausschliesst (Hélène Yèche).

Den Herausgeber/innen waren auch grundsätzliche Klärungen der zivilgesellschaftlichen und transnationalen Problematik wichtig, vgl. die Beiträge des Nestors dieses Forschungsbereichs, Hans Manfred Bock. Die empirisch-aktengestützten Beiträge bilden eine gute Vorstufe für weitere Abklärungen, die nun nach den eingangs benannten Fragen (Verhältnis zu den Aktivitäten auf Regierungsebene, Prägung durch den internationalen Kontext) fragen können. Sie regen im weiteren dazu an, der Frage nach dem Alter und dem Geschlecht der Basisakteure systematischer nachzugehen sowie der zeitlichen Entwicklung des Verständigungsprozesses nicht nur im Einzelfall, sondern hinsichtlich der gesamten Bewegung unter dem Gesichtspunkt, was Pioniercharakter hatte und was Nachvollzug war, noch mehr Beachtung zu schenken.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Corine Defrance, Michael Kissner, Pia Nordblom (Hg.): Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen. Tübingen, Narr Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 2, 2011, S. 264-265